Krüppels Braut

Die Frau eines Querschnittsgelähmten über Barrieren unter Christen

In diesem Jahr feiern wir unsere Volljährigkeit. Seit achtzehn Jahren sind mein Mann und ich ein Paar und fast genauso lange ist er querschnittsgelähmt. Es heißt ja, dass man sich im Laufe der Jahre an alles gewöhnt, aber genau das Gegenteil ist der Fall: Je länger ich als Ehefrau eines Rollstuhlfahrers lebe, desto mehr sinkt meine Toleranzgrenze für Barrieren, denen ich immer wieder ausgesetzt bin. Gerne würde ich ein Buch schreiben mit dem Titel „Krüppels Braut“, denn mit jedem Jahr häufen sich mehr Geschichten an, die zeigen, wie sehr wir Christen andere einschränken:

Barrieren zu den Kirchengemeinden

Als mein Mann und ich in unserer Kirche heirateten, mussten wir den Nebenausgang benutzen; die Hochzeitsgesellschaft schritt durch den Hauptausgang, während wir durch den Schuppen des Küsters die Kirche verließen. Wir hatten dafür Verständnis, war unsere Kirche doch schon ziemlich alt und aus einer Zeit, in der man nicht besonders auf Barrierefreiheit achtete.

Von neueren Kirchengebäuden besonders von Freikirchen, die erst in den letzten Jahren entstanden sind, sollte man eigentlich erwarten, dass sie beim Neubau oder Umbau barrierefreie Eingänge mit einplanen. Bei der Kalkulation wird dies aber meist schnell wieder verworfen, um Kosten einzusparen. Bei Besuchen in verschiedenen Gemeinden erleben wir das immer wieder.

Bei fast jeder Kirchengemeinde fehlen rollstuhlgerechte Parkplätze. Gibt es welche, werden diese gerne von Senioren besetzt, damit sie nicht so weit laufen müssen. Wieder andere befinden sich auf Schotterplätzen oder haben nicht die genügende Breite, damit ein Mensch im Rollstuhl überhaupt aussteigen kann. Da bleibt man doch lieber gleich zuhause, oder?

Barrieren in den Kirchengemeinden

Nicole und Markus Schenderlein als BrautpaarIn unserer jetzigen Gemeinde kommt mein Mann – ein vergleichsweise mobiler Querschnittsgelähmter – nur mit Mühe selbst die steile Rampe hinauf. Eine Alternative ist der Hintereingang, dort betritt man aber für alle sichtbar an der Bühne den Raum. Kommen wir zu spät, sehen es alle. Dasselbe gilt für die Toilette. Muss ein Fußgänger während des Gottesdienstes, kann er sein Bedürfnis unbemerkt hinten erledigen. Muss ein Rollstuhlfahrer, sorgt er allein schon deshalb für Aufmerksamkeit, weil er erst mal durch das Musikteam hindurchrollen muss.

Hat ein Rollstuhlfahrer Familie, braucht er noch mehr Organisationstalent. Die meisten Räume für Kinder befinden sich im Keller oder Obergeschoss, zu denen es keinen Fahrstuhl gibt. Papa kann also sein Kind nicht im Babyraum wickeln oder zum Kindergottesdienst begleiten. Mama wird dadurch zur Alleinerzieherin – zumindest in ihrer Kirchengemeinde.

Bei Schnee und Eis hat sich mein Mann einmal extra zu einem wichtigen Treffen der Gemeinde aufgemacht. Nach kurzer Zeit war er wieder zuhause. Man hatte sich im Keller versammelt und er konnte sich noch nicht mal bemerkbar machen. Bei einer Großveranstaltung von drei befreundeten Gemeinden kamen wir aus der Turnhalle nicht mehr alleine heraus; mein Mann musste getragen werden. Man hatte die Gemeindemitglieder im Rollstuhl nicht einkalkuliert; Behinderten-WCs gab es auch nicht. Fühlen Sie sich auf diese Weise willkommen?

Barrieren in christlichen Freizeithäusern

Mein Mann und ich haben eine christliche Beratungsstelle und besuchen regelmäßig Fortbildungen, um uns für unsere Klienten fit zu halten. Bestimmte Ausbildungsgänge im christlichen Bereich können wir aber gar nicht abschließen. Die meisten Schulungsorte, Freizeit- und Seminarhäuser sind nicht mit dem Rollstuhl zu erreichen.

Frustrierend daran ist, dass selbst nach mehrfachem darauf Aufmerksam machen kaum etwas daran geändert wird. Es gibt barrierefreie Häuser, die aber teurer sind oder zu denen keine Beziehungen bestehen und deshalb nicht gebucht werden.

Christliche Familienfreizeiten, Auszeiten für Männer und Frauen, spezielle Wochenenden für Mutter und Kind oder Vater und Kind – sie alle sind für uns meistens nicht zugänglich. Freunde fahren gemeinsam in den Urlaub; wir müssen zuhause bleiben.

Barrieren in christlichen Institutionen

In unserer Region wurde ein neues größeres christliches Projekt für Jugendliche und Familien gestartet. Eine komplette Halle wurde neu umgebaut. Einmal im Monat gibt es einen Familiennachmittag – aber nur für Familien ohne Handicap. Die Toiletten befinden sich im Keller, das Café im Obergeschoss. Jugendliche mit einer Behinderung können ebenfalls gleich zuhause bleiben. Beachvolleyball im Sand und Boxen mit Sandsack? Für Rollstuhlfahrer eine Hürde statt Hilfe zur Integration.

Nicole und Markus Schenderlein draussen auf einer BankVor einigen Jahren werden wir zu Aufnahmen in ein christliches Fernsehstudio eingeladen – zu dem Thema Liebesbeziehung mit Handicap. Als wir ankommen, hatte man „vergessen“, dass mein Mann im Rollstuhl sitzt – der Fahrstuhl sei defekt. Schließlich funktionierte der Lift doch, aber mein Mann kam nur mit Mühe hinein. Samuel Koch wird diesen TV-Sender niemals von innen sehen; mit einem E-Rolli ist das Gebäude nicht erreichbar.

Der Fahrstuhl geht zwar nach oben zu den Redaktionsräumen, aber nicht bis in den Keller zum Studio. Mein Mann muss sich über zwanzig Stufen heruntertragen lassen. Nach der Aufnahme sollen wir kurz warten, während das Team sich zur Besprechung zurückzieht. Irgendwann hören wir keine Stimmen mehr und die Lichter gehen aus. Wäre ich nicht dabei gewesen und hätte Hilfe geholt, hätte mein Mann dort im Dunkeln übernachten müssen; im Keller gab es keinen Handyempfang. 

 

Barrieren in den Köpfen

Oft ist es schlicht nur Unwissen, das meinen Mann und auch mich als seine Frau behindert. Wir möchten kein Ungleichgewicht in unserer Beziehung, indem ich zu seiner Helferin oder Pflegerin gemacht werde – doch dies passiert wegen der baulichen und zwischenmenschlichen Barrieren leider immer wieder:

Bei einem Besuch einer befreundeten Gemeinde ist das Begrüßungsteam ratlos, als es uns sieht. Der Raum ist schon relativ voll und die Stuhlreihen wurden eng gestellt. Mein Mann wird ignoriert und stattdessen ich als sein „Zivi“ angesprochen: „Wo stellen wir den denn jetzt hin?“ Mein Mann sagt dann meistens so etwas wie „Es kann auch selbst sprechen“, denn leider ist diese Erfahrung kein Einzelfall.

Christen sind nicht auf Menschen mit Handicap eingestellt. In manchen Gemeinden sogar gar nicht gewollt. Wer dort nicht geheilt wird, gehört nicht dazu. Auch das haben wir nicht nur einmal erlebt. Jesus begegnet uns da ganz anders. Er hat ein Herz für die Ausgestoßenen der Gesellschaft. Und ich muss leider sagen: Genau das sind wir. Wir stehen am Rand. Wir werden vergessen, übersehen, nicht mal integriert.

Der Traum von Inklusion

Das Wort Inklusion geht noch weit über den Begriff Integration hinaus und sorgt derzeit im pädagogischen Bereich für starke Bewegung. Ich finde aber, Christen sollten Vorreiter in Sachen Nächstenliebe sein, besonders für die Alten und Kranken.

Meine Beispiele sind nur einige wenige aus der Sicht eines Querschnittsgelähmten. Man stelle sich nur die Erfahrungen anderer Menschen mit Handicap vor. Was ist mit den Tauben, Stummen, Blinden, Mehrfachbehinderten, geistig Behinderten? Haben Sie einen Platz in unseren Reihen? Können sie in unseren Gemeinden und christlicher Umgebung die Liebe Jesu erfahren? 

Ich träume von einer christlichen Initiative für Inklusion; ich würde sie sogar anschieben. Denn ich glaube, dass wir Vieles bewegen könnten, wenn sich christliche Verbände, Gemeindebunde und Organisationen zusammentun und sich genau dies auf die Fahne schreiben würden: „Wir wollen, dass bei uns jeder Mensch die Liebe Jesu erfahren kann.“

Dazu brauchen wir Aufklärung über bauliche und zwischenmenschliche Barrieren und vor allem die Liebe Jesu selbst, die alle Barrieren überwinden kann. Auch nach achtzehn Jahren als „Krüppels Braut“ habe ich trotz aller Müdigkeit noch diese kleine Hoffnung: eine Erweckung der anderen Art unter uns Christen.


Nicole Schenderlein, Redakteurin und Autorin, hat mit ihrem Mann Markus in Ostfriesland eine Beratungsstelle auf Spendenbasis: www.kleiner-leuchtturm.de.

Der Artikel erschien in „miteinander unterwegs“, Ausgabe 2/2013,
www.frauenwerk.org/zeitschrift-miteinander-unterwegs und war Anstoß zur Gründung von EDENerdig.


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