Zusammenwachsende Eisschollen„Barrierefreie“ Gemeinden im Neuen TestamentMenschen auf der Suche nach Gemeinschaft, nach Freundschaft, konnten in der antiken griechisch-römischen Gesellschaft durchaus fündig werden. Ja, das gab es – sogar auf dem Hintergrund einer ausgeprägten Philosophie der Freundschaft. Allerdings: Denkbar waren nur Freundschaften unter Gleichgestellten. „Freundschaft ist Gleichheit“, lautete ein damaliges Sprichwort, und das war genauso gemeint: Du kannst mein Freund sein, wenn du mir ähnlich bist. Freundschaften außerhalb der eigenen sozialen Schicht waren nicht vorgesehen – schon gar nicht zwischen Hausherr und Sklaven. Jede gesellschaftliche Gruppe lebte sozusagen auf ihrer eigenen Eisscholle. Man nahm einander wahr, aber man teilte seine Scholle nicht. Im Judentum zu der Zeit von Jesus war die Gesellschaft nicht so stark zerklüftet. Zum Beispiel gab es eine viel breitere gemeinsame Bildungsgrundlage durch die Schulung an der Heiligen Schrift. Doch auch die jüdische Gesellschaft war von Barrieren durchzogen: soziale Schranken zwischen Männern und Frauen, Juden und Samaritanern und auch die gewollte Barriere zwischen den Pharisäern, den „Abgesonderten“, und dem gewöhnlichen „Landvolk“. Jüngerkreis mit SprengstoffAls Jesus dann mit seiner Jüngergruppe durchs Land zog, war das in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Jesus hatte Männer miteinander verbunden, die eigentlich unverträglich waren und Abstoßungsreaktionen gezeigt haben müssten: Neben Levi, dem Zöllner in römischen Diensten, war da Simon der Zelot – ein (früherer) Widerstandskämpfer gegen die Römer. Theologisch kamen die Zeloten aus der Bewegung der Pharisäer – die wiederum für einfache galiläische Fischer wie Petrus nicht viel übrig hatten. Männer mit konservativ-jüdischen und mit modernen griechisch geprägten Namen gab es unter den Jüngern. Brüderpaare und andere, die keine solche Verbindung untereinander hatten – war da Rivalität nicht vorprogrammiert? Dieser Jüngerkreis trug Sprengstoff in sich! In seine erweiterte Jüngergruppe nahm Jesus dann auch noch gleichberechtigt Frauen auf. Und es hat irgendwie miteinander funktioniert! Die Jüngergruppen von Jesus waren eine barrierefreie Gemeinschaft. Als sich später Gemeinden bildeten, erst in Israel, dann im ganzen griechisch-römischen Raum, haben diese den „Keim der Barrierefreiheit“ sehr oft zum Wachsen und Blühen gebracht. Die Botschaft von Jesus sprang über Barrieren hinweg und hat Menschen, die eigentlich nicht zusammen passten, zusammengeführt. Samaritaner – aus jüdischer Sicht fremdartig, teils verhasst – kamen zum Glauben und wurden im entstehenden Netzwerk der Gemeinden begrüßt. Schwieriger war der Sprung des Evangeliums hin zu den Nichtjuden, den „Völkern“. Gott hat hier besonders viel Vorbereitungsarbeit geleistet. Zum Beispiel auch dadurch, dass er Petrus im Haus eines Gerbers einquartierte – dem Vertreter eines unreinen Gewerbes. Hier musste Petrus sich schon einmal kräftig überwinden – und er schaffte es (Apostelgeschichte 9,43).
Bildungsunterschiede gab es in der Gemeinde nicht nur aufgrund des Gefälles zwischen Arm und Reich, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Herkunft. „Skythen“ zum Beispiel galten als Barbaren. Und doch konnte Paulus nach Kolossä in Kleinasien schreiben: „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus“ (Kolosser 3,11). Das war natürlich auch ein Zielbild, nicht einfach nur eine Zustandsbeschreibung. Aber Paulus konnte mit seinem Satz dennoch an Erfahrungswerte in der Gemeinde anknüpfen. Es war, als ob im „Meer“ der griechisch-römischen Gesellschaft nicht nur einzelne Eisschollen trieben, sondern überall dort, wo Christen Gemeinden bildeten, waren die Eisschollen zusammengewachsen und bildeten eine gemeinsame Fläche, auf der man sich frei bewegen konnte. Wenn alte Risse wieder aufbrechen
Das galt für die Gemeinschaft zwischen Christen jüdischer Herkunft als auch denen ohne jüdische Vorgeschichte. An diese „Heidenchristen“ wurden bald Forderungen gerichtet: Erst die Beschneidung, dann das Evangelium. Die Nichtjuden sollten also erst dem Judentum beitreten, bevor sie Jesusleute sein durften. Paulus sah hier, dass eine menschliche Leistung zur Begnadigung durch Jesus hinzuaddiert würde, und wehrte sich gegen die Forderung. Nicht Beitritt der einen Gruppe zur anderen, sondern eine echte Zusammenführung war christusgemäß. „Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft“ (Epheser 2,14).
Auch reiche Sklavenhalter nutzen ihre Vorteile aus, feierten das Abendmahl schon mal unter ihresgleichen, bevor die Sklaven nach getaner Arbeit später hinzukamen und nur noch Reste vorfanden. Und dann gab es noch die Barriere zwischen denen, die ein enges Gewissen hatten und denen, die mehr Freiheit vertrugen. Auch das trat beim Essen zutage: Einige aßen nur Gemüse, andere auch Fleisch und wieder andere sogar Fleisch, das möglicherweise vorher den Götzen geweiht worden war. Für die Engen im Gewissen eine Unmöglichkeit! Paulus gab hier einen neuen Maßstab: Entscheidend ist nicht die eigene Freiheit, sondern was dem anderen nützt und ihn schützt. Die Johannesbriefe stammen aus etwas späterer Zeit und auch sie zeigen eine gewisse Zerrissenheit der Christen. Der „Älteste“, der den zweiten und dritten Brief schrieb, sammelt seine „Freunde“ um sich. Diese Gruppe wird von einem einflussreichen Mann namens Diotrephes ausgegrenzt. Der Älteste seinerseits will ebenfalls andere ausgrenzen: diejenigen, die Christus verzerrt lehren und ihm etwas von seiner Fülle nehmen wollen (3.Johannes 9–10,15; 2.Johannes 9–11). Diese Barriere scheint die einzige zu sein, die notwendig und sachgemäß ist: Wer Christus – den ganzen Christus – als Mittelpunkt aufgibt, der hat die gemeinsame Basis verlassen und der soll auch keine Prägekraft in der Gemeinde haben. Drift des Heiligen GeistesSo gefährdet die Gemeinschaft der ersten Christen auch war: Sie bildete ein deutliches, aufrüttelndes Zeichen in der damaligen Gesellschaft. Sie zeigte, dass das, was Christus getan hat, stärker ist als die Kräfte, die sonst wirksam sind. Der Keim zur Überwindung der Barrieren ist der Gemeinde von Jesus dauerhaft eingepflanzt: Die Drift des Heiligen Geistes ist ständig aktiv – sie treibt die „Eisschollen“, die eigentlich auseinanderbrechen würden, stetig zueinander. Dr. Ulrich Wendel ist Redakteur des Magazins „Faszination Bibel“ und lebt mit seiner Familie in Wetter an der Ruhr. Internet: www.faszination-bibel.net; www.blog.bibel.de Bücher: Der Artikel erschien in „miteinander unterwegs“, Ausgabe 2/2013, |